B E T Suisse Newsletter 03/2021


Exklusiv: Ausführliches Interview mit Jörg Spicker, Swissgrid, zum verpassten Rahmenabkommen mit der EU und seine Folgen 

Wenn wir heute auf den Strommarkt in der Schweiz zurückblicken, so gehörte bislang noch die Umsetzung der Energiestrategie 2050 oder das Ringen um die Öffnung des Strommarktes nebst den Vernehmlassungen und Diskussionen zum StromVG zu den Top-Themen. Dies hat sich seit Mai diesen Jahres geändert, denn nach dem Scheitern der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU ist der dringend benötigte Abschluss eines Stromabkommens in weite Ferne gerückt. 

Auch die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom) hat sich kritisch zum Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU geäussert. Der Bundesratsentscheid, die Verhandlungen zu stoppen, habe die Lage in Bezug auf die Stromversorgungssicherheit verschärft, so die ElCom. Die Folgen für die Versorgungssicherheit werden unterschiedlich kommentiert, denn die Schweiz ist bereits seit Jahren im Winter auf Stromimporte angewiesen. 

Wir haben Jörg Spicker, Senior Strategic Advisor bei Swissgrid AG nach seiner Einschätzung gefragt:

Herr Spicker, als nationaler Übertragungsnetzbetreiber stellt Swissgrid die Schnittstelle zum europäischen Ausland und sichert die Stromübertragung und vor allen Dingen den Import zu Zeiten, in denen die heimische Stromerzeugung den Bedarf nicht decken kann. Swissgrid hat seit Jahren betont, wie wichtig das Stromabkommen für die europäische Integration des Schweizer Übertragungsnetzes ist. Wie enttäuscht sind Sie, dass die Verhandlungen mit der EU nun gescheitert sind? Welche kurz- und mittelfristigen Auswirkungen sehen Sie?

Jörg Spicker:
Wir haben seit vielen Jahren auf die Wichtigkeit und die Notwendigkeit eines Stromabkommens hingewiesen. Zumindest haben wir nach dem Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen nun auch Klarheit: Ein Stromabkommen wird in nützlicher Frist nicht abgeschlossen werden. Swissgrid hat sich natürlich auf diesen Fall vorbereitet. Die Verhandlungen wurden ja in verschiedenen Phasen bereits seit 2007 zwischen der EU und der Schweiz geführt. Auch wenn Swissgrid selbst an den Verhandlungen nicht beteiligt war, wussten wir, dass es um die Übernahme der Regelungen des 3. Richtlinienpakets der EU ging. Später kam dann das «Clean Energy Package», also das 4. Paket mit vielen neuen Regelungen für die Netzbetreiber und die Strombranche insgesamt. Diese neuen Regelungen des CEP waren jedoch noch nicht Teil des Verhandlungsmandats.

Es war uns klar, dass es keinen kurzfristigen Abschluss eines Rahmenabkommens geben würde, welches sowohl beim Bundesrat, im Parlament und auch bei der Bevölkerung auf Akzeptanz stösst. Spätestens 2016/2017 haben wir die konkreten Konsequenzen unseres Ausschlusses aus dem Market-Coupling (Day-Ahead-Market-Coupling) festgestellt, nämlich eine Zunahme ungeplanter Stromflüsse auf unserem Netz, was wiederum zu einem Anstieg des Redispatch und damit zu einem Problem der Versorgungssicherheit führen könnte, denn der Redispatch wird in erster Linie aus Schweizer Wasserkraft zur Verfügung gestellt. 

Mit der Implementierung der System Operation Guideline (SO GL) in der EU war klar, dass es Vorschriften geben muss, welche die Zusammenarbeit mit Drittstaaten im europäischen Netzbetrieb regeln. Hierzu haben die europäischen Netzbetreiber (sowohl der EU als auch der Drittstaaten) das Synchronous  Area Framework Agreement (auf Basis der o.g. SO GL) abgeschlossen. Dabei gelang es Swissgrid, eine spezielle «Schweiz-Klausel» zu verhandeln mit der wir uns verpflichtet haben, einen grossen Teil der europäischen Regelungen zu übernehmen und im Gegenzug unser Remedial-Action-Portfolio (Redispatch u.a.) als Beitrag zur Systemsicherheit zu erweitern. 
 

Gibt es denn vielleicht – aus Sicht der Schweizer Energiewirtschaft – eine Chance auf ein separates Stromabkommen, welches unabhängig von den anderen diskutierten Themen eine Möglichkeit zur besseren Integration in den europäischen Strommarkt bieten könnte? Mit einem privatrechtlichen Abkommen zum Beispiel auf technischer Ebene, so wie es Swissgrid bereits mit einigen europäischen Übertragungsnetzbetreibern verhandelt, könnte man die Netzstabilität gewährleisten, das wäre in jedem Fall besser als der Status Quo. 

Jörg Spicker:
Auf Basis des zuvor genannten Synchronous Area Framework Agreement können privatrechtliche Verträge mit den europäischen Übertragungsnetzbetreibern (TSO) abgeschlossen werden. Solche Verträge ermöglichen uns die Teilnahme an bestimmten Prozessen. Der Abschluss und die Umsetzung in der Schweiz wird sehr genau durch die ElCom beobachtet, denn es gilt eine schleichende Übernahme von EU-Recht zu vermeiden. 

Der Prozess der Implementierung ist noch nicht vollständig abgeschlossen, denn auch die Branche ist von der Übernahme bestimmter Regelungen betroffen, die wir in unserem revidierten Transmission Code (sozusagen das Betriebshandbuch) als Branchendokument übernehmen mussten. Swissgrid hat mit der Verhandlung und der Umsetzung hier quasi im «Sandwich» zwischen der EU und der Schweiz agiert. Wobei ich betonen möchte, dass diese Lösungen ein Stromabkommen nicht ersetzen können, sie sind von vorneherein als Übergangslösung angelegt.

Auch in den privatrechtlichen Verträgen müssen eine Reihe von EU-konformen Regelungen berücksichtigt werden, so dass sicherlich auch verschiedene Dinge zu übernehmen sind, die wir gerne ausgeschlossen hätten. Am Ende bedürfen diese Verträge dann der einstimmigen Genehmigung der beteiligten TSO und aller Regulatoren.

Eine weitere Lösung wäre ein sogenanntes «technisches Stromabkommen» das verschiedene Bestandteile des gescheiterten EU-Rahmenabkommens beinhaltet, aber dennoch als «Stand-alone-Lösung» umsetzbar wäre. Hier stellt sich aber die Frage, ob und inwieweit dann die Schweiz auch tatsächlich an den Marktvorteilen beteiligt wäre, die das Rahmenabkommen beinhaltet hätte. 

Ob ein solches, rein technisches Abkommen aber realistisch ist, kann vor dem Hintergrund der politischen Situation derzeit nicht mit Sicherheit gesagt werden.
 

Gibt es denn jetzt für die EU noch genügend Motivation und Druck, an weiteren Verhandlungen mit der Schweiz festzuhalten?

Jörg Spicker:
Neben dem Wohlfahrtsvorteil eines gemeinsamen Marktes sehe ich hier folgende drei Punkte, aus denen auch die EU eine starke Motivation ziehen sollte, die Verhandlungen fortzuführen:

1. Netzsicherheit

Der EU ist klar, dass eine Störung des Netzbetriebes in der Schweiz auch grossräumigere Auswirkungen haben würde. Andererseits gehen die Bestandteile des Clean Energy Package davon aus, dass die Systemzusammenarbeit und die Netzsicherheit mit der Schweiz funktioniert. Eine Störung in der Schweiz, auf Grund der fehlenden Einbindung in netzsicherheitsrelevante Prozesse im europäischen System, würde sich auch auf die Nachbarländer auswirken. Wir wissen, der Systemstress nimmt zu (Zunahme von Handel, Zunahme volatiler Erzeugung, Rückgang von rotierenden Massen im System etc.) und wir müssen nicht nur in der Schweiz immer häufiger in den Systembetrieb eingreifen. Bedenken Sie, wir hatten allein in diesem Jahr bereits zwei System-Splits (Aufsplittung des Netzes in zwei Teile durch eine Grossstörung) in Europa. Was vor 2021 in der Geschichte unseres Stromverbundnetzes erst einmal passiert ist, mussten wir in diesem Jahr bereits zweimal erleben. 

2. Versorgungssicherheit

Jedes Land in der EU baut darauf, dass im Falle eines Lieferengpasses aus den Nachbarländern importiert werden kann. Wenn die Schweiz aber nicht auch exportieren kann, weil Kapazitäten hierzu fehlen und wir in die europäischen Prozesse nicht eingebunden sind, fällt hier ein bisher verlässlicher Partner unter den Tisch. 

3. Klima

Die Schweiz kann mit ihrer CO2-neutralen Wasserkraft sehr gut zu den Zielen des europäischen Green Deal beitragen. Die EU würde wichtige Chancen vergeben, nutzt man unsere Ressource nicht. 

Die Schweizer Energiestrategie 2050 (ES 2050) sieht ab 2035 Importe in Höhe von über 17 % aus den Nachbarländern als wesentlichen Bestandteil der Stromversorgung vor. Doch bereits ab 2020 müssen die Nachbarländer rund 70 % (gefixt im «Clean Energy Package» der EU) der grenzüberschreitenden Stromkapazitäten für den innereuropäischen Handel reservieren. Stromflüsse mit der Schweiz zählen nicht zu diesen 70 Prozent. Nun diskutiert die Branche bereits Szenarien bezüglich vermehrter Stromausfälle für den Fall, dass die Importe der europäischen Nachbarn künftig nicht mehr ausreichen, um den Bedarf der Schweiz zu decken. Wird hier zu Unrecht Angst geschürt?

Jörg Spicker:
Wenn wir eine Regelung finden, die die Schweizer Netzengpässe berücksichtigt, dann bedeutet dies in der Konsequenz, dass wir zu bestimmten Zeiten in der Lage sein müssen, die Handelsflüsse Intra-EU zu begrenzen. Das bedeutet beispielsweise, es wird weniger Kapazität zwischen Deutschland und Frankreich geben. Die komfortable Situation aus französischer Sicht, nämlich die Schweiz als Kupferplatte und Drehscheibe mit zusätzlichen Kapazitäten für Frankreich würde es so nicht mehr geben können. Das bedeutet in der Konsequenz: Die Zustimmung des französischen Regulators zu den zuvor genannten privatrechtlichen Verträgen kann nicht mehr als selbstverständlich gesehen werden.

Der zurzeit diskutierte Mantelerlass (Kombination aus Revision Energiegesetz und Revision Stromversorgungsgesetz) geht davon aus, dass es ein Stromabkommen mit der EU gibt. Swissgrid hat aber in Kenntnis des Clean Energy Package bereits seit 2018 darauf hingewiesen, dass zu bestimmten Zeiten die Importkapazität der Schweiz stark reduziert wird. Unsere bisherigen Planungen und Szenarien müssen zumindest nun zwingend revidiert werden.  

Die Netzsicherheit ist aber nach wie vor gewährleistet, die Gefahr eines Blackouts sehe ich nicht. Allerdings werden natürlich Massnahmen zur Versorgungssicherheit zu treffen sein.
 

Die Schweiz sollte, nicht zuletzt auch in ihrer Funktion als mitteleuropäische Stromdrehscheibe weiterhin in die Markt- und Solidaritätsmechanismen der EU eingebunden werden. Bei Störungen können die bisherigen Stromtransite künftig unterbrochen und beispielsweise Italien nicht mehr wie gewohnt mit Strom versorgt werden. Nimmt die EU derartige Gefahren in Kauf und wie stellt sich die Schweiz darauf ein, dem italienischen Nachbarn künftig möglicherweise nicht mehr vollumfänglich als Transporteur zur Verfügung stehen zu können?

Jörg Spicker:
Italien ist historisch ein enger Partner im Energiebereich für die Schweiz. Im letzten Jahr wurden dorthin ca. 20 TWh Strom aus der Schweiz exportiert, das ist rund ein Drittel des Schweizer Jahresbedarfs. Italien hat sich bisher immer auf die Transits aus der Schweiz verlassen können. Den Italienern ist aber bewusst, dass dieses Thema auf sie zukommt und daher hat man begonnen, verstärkt in Netzausbau sowie in neue Erzeugungsanlagen zu investieren, um sich unabhängiger von Stromimporten zu machen. Man kann also durchaus feststellen, dass sich die Abhängigkeit Italiens von der Schweiz kontinuierlich reduziert.

Ein erheblicher Nachteil für die Schweiz hingegen wäre, wenn Italien künftig am Flow-Based-Market-Coupling (Mechanismus zur lastflussabhängigen Verbindung unterschiedlicher Strommärkte) teilnähme und die Schweiz eben von diesem Market-Coupling komplett umgeben wäre, was eine Zunahme der ungeplanten Flüsse und mögliche Begrenzungen der Importkapazität aus Italien zur Folge hätte. 
 

Neben dem Importproblem kommen wir absehbar durch Abkehr von der Atomkraft und gleichzeitiger anvisierter CO2-Neutralität in eine Situation, deutlich grösseren Bedarfs nach Strom. Die Erneuerbaren sollen das Problem weitestgehend lösen. Befürchtung von Stromengpässen und auch von nicht ausreichender Netzinfrastruktur in der Schweiz werden jedoch lauter. Wie bereitet sich Swissgrid vor, gibt es einen Masterplan und müssen die Konsumenten nun mit einer veränderten Versorgungsqualität rechnen?

Jörg Spicker:
Nach dem Abbruch der Verhandlungen wurde nun der Ruf nach einem „Plan B“ lauter. Der Bundesrat hat hierzu verschiedenste Aufträge an die zuständigen Behörden erteilt, die wiederum natürlich eng mit Swissgrid zusammenarbeiten. Es müssen nun verschiedene Massnahmen beschleunigt werden. So muss unsere Netzentwicklung auch trotz verschiedentlicher Widerstände in der Bevölkerung schneller umgesetzt werden. Ein erster Schritt ist hier mit der Strategie Stromnetze (Bundesrat) zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren gemacht worden. Swissgrid hat zudem begonnen, das «Strategische Netz 2040» zu entwickeln, welches den Veränderungen Rechnung tragen und die Versorgungsqualität weiter garantieren soll. Parallel soll der Ausbau der erneuerbaren Energien forciert werden, der zurzeit eher schleppend voran geht. 

Eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Swissgrid und den Verteilnetzbetreibern sowie insbesondere den nachgelagerten Netzbetreibern, welche künftig die dezentrale Einspeisung aufnehmen werden, wird nötig. Prozesse wie der Datenaustausch oder der Zugriff auf Speichermöglichkeiten sind zu regeln. 

Wir benötigen ein neues Denken, ein «Out-of-the-box Denken», denn die neuen Situationen benötigen neue Lösungen. 
 

Aktuell werden auch wieder Forderungen lauter nach dem Neubau eigener Gas-Reservekraftwerke in der Schweiz. Die Schweizer Regierung hat die Elcom beauftragt, entsprechende Konzepte zu entwickeln, um die drohende Versorgungslücke zu schliessen. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg? Welche Alternativen sehen Sie?

Jörg Spicker:
Swissgrid hat zwar stets auf drohende Engpässe hingewiesen, wir mischen uns jedoch nicht in die Frage des Erzeugungsparks in der Schweiz ein. Die Verfügbarkeit von Energie für die notwendigen Systemdienstleistungen ist hier für uns aber ein Thema. Reserveenergie beispielsweise beschaffen wir nach marktlichen Gegebenheiten. Aufgrund der Erzeugungsstruktur in der Schweiz wird die Reserveenergie aus Wasserkraft bereitgestellt. Die Schweizer Wasserkraftwerke haben jedoch verschiedenste Rollen. Sie dienen der regulären Versorgung, sie dienen dem Redispatch, den wir national und international durchführen und der Regelenergie. Zusätzlich soll die Wasserkraft eine Rolle bei der strategischen Energiereserve spielen, die jetzt neu eingeführt werden soll (Rev. StromVG). 

Das bedeutet eine Herausforderung bei der künftigen Beschaffung unserer Regelenergie. Die strategische Energiereserve hingegen bringt uns nicht weiter, weil sie keine zusätzliche Energie ins System bringt. Gleiches gilt für den angedachten Winterstromzubau, weil auch dieser in einer ersten Phase auf Wasserkraft begrenzt werden soll.

Es müssen also alternative Lösungen her, deren Marktrollen aber noch zu definieren sind. Sind die zusätzlichen Kapazitäten technologieneutral, so muss zusätzlich unterschieden werden, ob sie lediglich als «Reservekraftwerk» eingesetzt werden und Systemdienstleistungen bieten, oder ob sie auch für die Versorgung bestimmt sein sollen, womit sie in direkter Konkurrenz zur heimischen Wasserkraft stehen würden. 

Die anvisierte CO2-Neutralität wiederum beschränkt uns in der Technologie, denn bei Gas handeln wir uns zusätzliche CO2-Emissionen ein, von einem Gasversorgungsthema ganz zu schweigen. 
 

Auch der Ausbau von Solar- und Windenergie soll weiter forciert werden. Können diese volatilen Energieträger in der Zukunft einen wesentlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit in der Schweiz liefern oder verschärfen sie gar die Probleme mit der Systemstabilität aufgrund ihres volatilen dargebotsabhängigen Charakters?

Jörg Spicker: 
Es gibt bereits deterministische Frequenzabweichungen durch die erneuerbaren Energien, die zu beim Stundenwechsel zu Problemen führen und vermutlich auch zu einer Zunahme von Regelenergiebedarf führen werden.  
 

Die Schweizer Stromwirtschaft sieht auch noch ein weiteres Problem. Durch die fehlende bzw. sehr schwache Kopplung der Intraday-Märkte der Schweiz und der EU, kann die Schweizer Energiewirtschaft schon heute weniger vom kurzfristigen Austausch mit den Nachbarländern und damit auch wirtschaftlich weniger von der Volatilität der Strombörsen profitieren. Gibt es aus Ihrer Sicht einen Weg, diese Situation auszugleichen?

Jörg Spicker:
Nach dem Ausschluss der Schweiz aus der XBID (Initiative europäischer Strombörsen und Übertragungsnetzbetreiber zur Schaffung eines gemeinsamen europaweiten Intraday-Marktes) brach der Intraday-Handel in der Schweiz nahezu zusammen. Regulatorisch machbare Gegenmassnahmen zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Italien sind kaum noch möglich, Schlupflöcher werden immer weniger. Ein alternativer Ausgleich ist ebenfalls kaum möglich. 

Ist das Nicht-Zustandekommen eines Stromabkommens damit vor allem ein Problem des Übertragungsnetzbetreibers Swissgrid und der EVU, die im internationalen Grosshandel tätig sind? Inwiefern sind auch kleinere und mittlere EVU in unterlagerten Netzebenen betroffen?

Jörg Spicker:
Insbesondere in der Westschweiz sind in der Tat auch die Verteilnetzbetreiber beispielsweise von den ungeplanten Stromflüssen auf Grund der historisch gewachsenen Netzstruktur betroffen. Der neue Transmission Code hält zudem Anforderungen an den Datenaustausch bereit, den wir mit unseren nachgelagerten Netzbetreibern pflegen. 

Es gibt Netzbetreiber, die Energie liefern und auch eine Bilanzgruppe verantworten. Neben eigener Erzeugung importieren diese Werke auch, sie kaufen ggf. am Schweizer Handelsplatz ein. Wenn nun aber die Importfähigkeit nicht mehr vorhanden ist, stehen die Netzbetreiber und auch deren nachgelagerte Netze ohne Energie da, es gibt ja kein Grundrecht auf Importfähigkeit.

Herr Spicker, die bisherigen „Patchwork-Lösungen“ haben die Stromversorgung und die Netzstabilität bisher immer noch gut gewährleisten können. Doch die Situation wird nicht besser, sondern sie wird mehr und mehr bröckeln. Wie sehen Sie die Zukunft der Schweizer Stromversorgung und welche Hoffnungen und Wünsche haben Sie?

Jörg Spicker:
Wir sehen eine starke Zunahme der Herausforderungen bis 2025 im Zuge der Umsetzung des Clean Energy Package. Die zunehmenden Ausschlüsse beispielsweise aus den Regelenergie-Plattformen sind äusserst nachteilig für die Netzsicherheit. Wir erwarten eine Zunahme der ungeplanten Stromflüsse, eine Verringerung der Importfähigkeit und der Redispatch-Ressourcen, die wir haben. Gleichzeitig sind wir in der Mitte des europäischen Stromnetzes immer schon eine verlässliche Drehscheibe mit unserer flexiblen Wasserkraft, die aber nicht genutzt werden kann. Diese Zukunft ist aus heutiger Sicht leider auch nicht besonders rosig. Ob TSO-TSO Verträge zustande kommen und wie viele der anstehenden Themen damit geregelt werden können, wissen wir nicht. 

Es braucht eine mutige Politik, um die Rahmenbedingungen für einen sicheren Netzbetrieb und eine sichere Stromversorgung in der Schweiz zu gewährleisten. Das ist mit Stand heute noch nicht geschehen. Swissgrid ist bereit, die Schnittstelle zur EU weiterhin zu gewährleisten, an Schweizer Lösungen mitzuwirken und das auch konstruktiv mit der gesamten Branche zu diskutieren, um zu tragfähigen Lösungen zu kommen. 
 

Wir bedanken uns bei Herrn Jörg Spicker für das geführte Interview.

Das Interview führten Micha Ries und Dr. Alexander Kox

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